Brexit-Krise in Großbritannien – ein Kommentar aus anglistischer Perspektive

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Großbritannien sagt Goodbye (Foto: pixabay)

In der Wahl am 12. Dezember 2019 haben sich die britischen Wähler*innen deutlich für Premierminister Boris Johnson und den Brexit ausgesprochen. Der Austritt Großbritanniens aus der EU beschäftigt seit Jahren Wissenschaftler*innen aus vielen Fachgebieten, neben Politikwissenschaft und Wirtschaft natürlich auch die Kulturwissenschaft, wie Prof. Dr. Doris Feldmann, Professorin für Anglistik, insbesondere Literatur- und Kulturwissenschaft.

Der Brexit aus anglistischer Perspektive – ein Kommentar von Prof. Dr. Doris Feldmann:
Brexit und politischer Wandel
Prof. Dr. Doris Feldmann (Foto: privat)

Kein anderes Thema bestimmt die politische Kultur Großbritanniens so nachhaltig wie der Brexit. Die mediale Präsenz des Dauerthemas (das Referendum wurde bereits 2013 angekündigt und 2016 durchgeführt) hat zur wachsenden Ungeduld bei den Wählern geführt. „Let’s get Brexit done“ – der Fokus hat sich auf diejenigen verlagert, die, wie Premierminister Boris Johnson, einen möglichst baldigen Austritt aus der EU versprechen. Die Wählerschaft hat sich immer weiter polarisiert – auch quer zu den etablierten Parteien: Die konservativen Tories wie auch die sozialdemokratische Labour-Party sind in sich gepalten, und die Brexit-Krise hat inzwischen eine eigene Partei hervorgebracht. In Teilen scheinen zudem die Handlungsfähigkeit des Unterhauses sowie die parlamentarische Souveränität in Frage gestellt.

Die britische Nation und/versus Europa

Eine euroskeptische Haltung ist in Großbritannien nicht neu, sondern Bestandteil des immer schon stark ausgeprägten britischen Nationalbewusstseins. In der Brexit-Krise wird Kontinentaleuropa nun zum bedrohlichen ‚Anderen‘ des britischen ‚Inselvolkes‘ stilisiert, während gemeinsame europäische Traditionen und Bindungen heruntergespielt werden. Gleichzeitig wird eine souveräne nationale Identität ungebrochen zelebriert – etwa in Form von traditionellen Institutionen wie den öffentlichen Zeremonien der Royal Family oder von mediatisierten Ritualen wie der legendären Last Night of the Proms, bei der Kulthymnen wie „Rule Britannia!“ (mit dem Refrain „Britannia Rule the Waves; Britons Never Will be Slaves“) gemeinsam und unter Fahnenschwenken gesungen werden. Als Abgrenzungsbewegung greift der Brexit insofern über Europa hinaus und ist mit imperialer Nostalgie ebenso wie mit Globalisierungsängsten verwoben.

Kulturwissenschaftliche Perspektiven

Aus kulturwissenschaftlicher Sicht gehört die Gestaltung einer kollektiven britischen Identität zu den ‚normalen‘ Prozessen eines fortlaufenden nation-building. Problematisch wird die ideelle Konstruktion einer nationalen Gemeinschaft aber dann, wenn die Identifikation des ‚Eigenen‘ allzu rigide über Abgrenzungen von negativ konnotierten ‚Anderen‘ verläuft, sich ideologisch sogar auf einen ‚fremden Anderen‘ verengt und gleichzeitig interne Machtmechanismen verdeckt. Mit dem Wandel von Europa-Bildern in Großbritannien hat sich die Anglistik bereits detailliert und kritisch in einer Vielzahl von Vortragsreihen, Konferenzen und Publikationen auseinandergesetzt. Ein selbstkritischer Blick auf die ideologischen Verschiebungen im europäischen Großbritannien-Bild, auch in Deutschland, wäre jedoch ebenso notwendig und sollte sich nicht allein auf post-Brexit Dystopien beschränken.

Die britische Literatur, das Theater und der Film haben sich seit dem Referendum eingehend den Rissen gewidmet, die durch das ‚Vereinigte Königreich‘ gehen, wobei eine große Mehrheit der britischen Kunst- und Kulturschaffenden auf Seiten der Remainers stehen. Romane wie Ali Smiths Autumn (2016), Amanda Craigs The Lie of Land (2017), Andrew Cartwrights The Cut (2017) und Jonathan Coes Middle England (2018) entlarven die mit der Brexit-Krise zu Tage tretenden gesellschaftlichen Spaltungen als Effekte wachsender sozialer und regionaler Ungleichheit (inklusive eines Stadt-/Land-Gefälles); deren Auswirkungen machen sie mit all ihren Brüchen und Widersprüchen als subjektives Erleben und Suche nach Orientierung – samt Zukunftshoffnungen und -ängsten sowie Solidaritäts- und Ohnmachtsgefühlen – zugänglich.

Brexit als Symptom und Katalysator für interne Krisen

Dass die Europäische Union nun vielen Briten als unerträgliche äußere ‚Fremdherrschaft‘ erscheint, ist also keineswegs nur Resultat der Taktik einzelner Politiker, sondern Ausdruck massiver innerer Spannungen. Einige dieser Konflikte sind spezifisch britisch, so etwa die schottische Unabhängigkeitsbewegung und der nun neu auflodernde Nordirlandkonflikt. Andere Probleme, wie die wachsende Kluft zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern, finden sich, zusammen mit Verdrossenheit gegenüber etablierter Politik und einem aufstrebenden Rechtspopulismus, spätestens seit der Finanzkrise ab 2007 auch in anderen europäischen Ländern.

Fazit

Wie immer ein mögliches Brexit-Abkommen unter den neuen Mehrheitsverhältnissen in Großbritannien letztlich auch ausfallen wird – für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung und den akademischen Austausch mit Großbritannien gilt: jetzt erst recht!