Fußball und die Wissenschaft dahinter – Interview mit Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann

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Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann im Interview zur verschobenen EM 2020, der ersten Sport-Großveranstaltung während der Corona-Pandemie (Foto: jorono/Pixabay)

Am 11. Juni wird in Rom das erste Spiel angepfiffen und die Fußball-Europameisterschaft (EM) damit eröffnet! Zwar findet die EM unter strengen Auflagen und mit nur wenigen Fans im Stadion statt, doch für viele Fans ist das Turnier nach der Absage im letzten Jahr und langem Lockdown ein sehnlich erwarteter Lichtblick.

Bei aller Begeisterung für das internationale Sportevent, die Lieblingsmannschaft und den Fußball selbst, gerät häufig in den Hintergrund, dass Fußball auch tatsächlich Forschungsgegenstand ist. Am Department für Sportwissenschaft und Sport beschäftigt sich zum Beispiel Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann, Leiter des Arbeitsbereichs Sport- und Bewegungsmedizin, professionell mit dem Lieblingssport der Deutschen.

Als Sportwissenschaftler und Arzt befasst er sich mit verschiedenen disziplinarischen Forschungsbereichen, darunter die Leistungsentwicklung im Breiten- und Leistungssport oder auch die Übertragung medizinischer Erkenntnisse und Methoden auf den Sport. Mit dem Programm Funiño ist er seit einigen Jahren dabei, den Nachwuchsfußball zu revolutionieren, außerdem berät er Bundesligavereine und nationale Verbände. Mehr dazu und einen Blick in die Vorbereitung auf ein internationales Turnier während der Corona-Krise gibt es im Interview mit Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann.

Können Sie bei Fußball-Spielen im TV überhaupt noch als Fan mitfiebern oder behalten Sie stets den Blick des Wissenschaftlers?

Tatsächlich kann ich den Fan und den Wissenschaftler in mir nicht wirklich trennen. Seit klein auf habe ich mich aus verschiedenen Blickwinkeln heraus für Sport und Fußball begeistert und schon früh begonnen, den Sport auch analytisch zu betrachten. Das erklärt auch, warum ich das im universitären Feld betreibe, denn die Leidenschaft ist bis heute erhalten geblieben.

Wenn ich ein Spiel ansehe, frage ich mich immer, was könnte besser laufen und wie erreicht man das – erst habe ich in eigener Logik versucht, dafür Lösungen zu finden, später dann mit Fachwissen und dem Aufbau von Evidenzen. Diese Fragestellungen verändern und erweitern sich fortlaufend, da man ständig neues Wissen hinzugewinnt und immer wieder eine neue Perspektive einnimmt. Das kann ich nicht abschalten und frage mich, warum stehen die Spieler im 16-Meter-Raum nicht enger oder warum lassen sie Kopfbälle der Gegner zu und springen selbst nicht hoch. Aber damit bin ich ja nicht alleine (lacht). Der nächste Schritt ist dann zu hinterfragen, warum es den Vereinen oft nicht gelingt diese einfach erkennbaren Schwächen zu beseitigen. Die Ursache kann nur in Mängeln in der Analyse sowie in der trainingsmethodischen Ansteuerung der Trainingsziele liegen.

Wenn die Emotionalität größer wird, weil zum Beispiel die Nationalmannschaft im Turnier vorankommt, vermischt sich das mehr und mehr und der Fan in mir kommt stärker durch. Dann stehe ich auch mit Tröte und Fanartikeln vor dem Fernseher und fiebere mit.

Die Erfahrung habe ich auch gemacht, als ich von 2003 bis 2005 als Trainer der Jugendmannschaft von Mainz 05 tätig war. Durch meine Verbindung zum Verein habe ich auch die Spiele in der Bundesliga und die Entscheidungen des damaligen Trainers Jürgen Klopp verfolgt, analysiert und beim Klassenerhalt gejubelt. Also ich bin Wissenschaftler und Fan gleichzeitig.

Begeistert sich als Fan und Forscher für den Fußball: Prof. Dr. Dr. Matthias Lochmann (Foto: M. Lochmann)
Wie sieht die Vorbereitung auf so ein großes Turnier in der Zeit einer Pandemie aus?

Die Vorbereitung auf dem Platz ist nur unwesentlich anders als vor der Pandemie. Natürlich bestehen die Hygienekonzepte, hier war der Fußball im letzten Jahr Vorreiter und man konnte in der Bundesliga damit schon Erfahrungen sammeln. Wenn alle Spieler, Trainer und Betreuer*innen getestet sind, können alle wie gewohnt zusammenarbeiten.

Jetzt sind es eher die logistischen Fragen, die vor den Pandemieaspekten geklärt werden müssen, also wie kommt die Mannschaft auf den Platz, wie laufen die Interviews ab? Die Interviews mit den Trainern der Bundesliga und jetzt auch mit dem Nationaltrainer laufen überwiegend online ab. Die Gefahr einer Infektion muss so umfassend wie möglich eingeschränkt werden. Bei den Spielern muss extrem auf Hygiene geachtet werden, nicht auszudenken, wenn sich ein Spieler infizieren würde und dann die ganze Mannschaft betroffen wäre. Das könnte das Aus einer Nation bei der EM bedeuten. Also werden die Spieler stark isoliert und haben keinen Kontakt zum Rest der Welt.

Wäre es nicht sinnvoll, in kleineren Gruppen zu trainieren, um Infektionen und Infektionsketten zu vermeiden?

Ganz unabhängig von der Pandemie ist es im Sport immer sinnvoll in kleinen Gruppen zu trainieren, um den persönlichen Trainingszustand und die Empfänglichkeit für Trainingsreize zu berücksichtigen, denn wir Menschen sind ja alle unterschiedlich. Das nennt man das Prinzip der Individualisierung und ist einer der wichtigsten Aspekte von Training. Im Fußball gibt es außerdem verschiedene Positionen, auch hier wird in Gruppen trainiert, denn ein Stürmer braucht andere Einheiten als ein Mittelfeldspieler oder ein Torwart. Im Training und in Spielen werden durch Tracking viele Daten gesammelt, zum Beispiel, auf welchen Positionen Spieler am meisten sprinten müssen oder wie hoch die Laufgeschwindigkeiten an sich sind. Auch die persönliche Belastungsfähigkeit wird immer wieder ermittelt, um Übertraining zu vermeiden und so die Verletzungswahrscheinlichkeit zu minimieren. Unter Rückgriff auf solche Analysen kann das Athletik- und Taktiktraining ausgerichtet werden und so der Leistungszustand der Mannschaft systematisch optimiert werden.

So kann ein Trainer zum Beispiel entscheiden, einen angeschlagenen Spieler mit zur Europameisterschaft zu nehmen, wenn absehbar ist, dass er bis zum Ende des Turniers, das hoffentlich erreicht wird, wieder fit ist und im entscheidenden Moment eingesetzt werden kann.

In der Strategie des Trainerstabs spielt dann auch eine Rolle, welche Gegner kommen, welche Sperren oder Verletzungen gibt es, in welcher Besetzung wird in dem gegebenen Fall gespielt, um zu entscheiden, welche Gruppe was trainiert.

Das klingt alles total logisch, wird das Prinzip der Individualisierung nur im Profisport berücksichtigt oder auch in Freizeitvereinen?

Paradoxerweise wird selbst in der Bundesliga oder allgemein im Profisport das Prinzip der Individualisierung viel zu wenig berücksichtigt und nicht adäquat umgesetzt, obwohl es schon über vierzig Jahre alt ist. Das ist etwas, das ich beobachte und nach wie vor bedaure. Auch deswegen setze ich mich beim DFB und den Verbänden dafür ein, die Spielformen für den Jugendfußball zu überdenken. Es werden zu viele Kinder pro Altersklasse eingruppiert, was eine Individualisierung erschwert und dabei wäre sie hier noch wichtiger als im Profifußball.

Wenn eine Gruppe in ihrer Leistungsstruktur homogen ist, braucht sie ähnliche Trainingsreize. Bei höherklassigen und erfahreneren Sportlerinnen und Sportlern ist diese Situation häufiger gegeben. Bei Kindern kann die Leistung sehr unterschiedlich sein. In so einer Jugendmannschaft aus dem Breitensportsektor kann eine Trainerin oder ein Trainer mit kleinen Gruppen die Kinder leistungsgerecht zusammenführen und sie zum Beispiel drei gegen drei spielen lassen.

Das macht auch den Kindern mehr Spaß, denn wenn sie auf einem ähnlichen Niveau spielen, können sie sich viel mehr am Spiel beteiligen.

Sonst gibt es oft den Fall, dass ein oder zwei Leistungsträger das Spiel ‚alleine machen‘ und 80 Prozent der anderen Kinder den Ball kaum abbekommen. Wir wissen, wenn Spiele auf der Kippe stehen, ist die Motivation am höchsten. Betrachtet man allerdings die Spiele von etwa 10 bis 11-Jährigen, gehen diese häufig mit großer Tordifferenz aus und am Ende sind beide Seiten unmotiviert. Das kann durch Spiele in kleinen Gruppen mit etwa gleich starken Sportlerinnen und Sportler verhindert werden. Das ist meiner Ansicht nach ein wichtiger Aspekt, denn es geht nicht nur um Leistungsentwicklung durch Selektion, sondern auch um Partizipation oder, wenn man diesen Gedanken etwas umformuliert, um Leistungs- und Werteorientierung.

Die Wissenschaft hinter Fußball (Foto: Gerhard G./Pixabay)
Sie haben ja auch das Spielmodell ‚Funiño“ weiterentwickelt – können Sie das kurz vorstellen?

Funiño ist ein Akronym, das man Spanisch lesen kann als ‚Futbol a la medida de niño‘, was so viel heißt, wie ‚Fußball, maßgeschneidert auf die Bedürfnisse des Kindes‘. Oder man liest es Englisch und setzt ‚fun‘ und ‚niño‘ zusammen, dann heißt es so viel wie ‚Spaß für Kinder im Sport‘. Das Spiel hat die Besonderheit, dass es vier Tore gibt und die Kinder immer drei gegen drei spielen. Außerdem gibt es eine Schusszone und man darf nur ein Tor erzielen, wenn man in dieser Zone ist, die etwa 6 Meter vom Tor entfernt. Diese Merkmale machen den Unterschied und fördern auf Grund ihrer Wirkungsrichtung die Entwicklung der Spielintelligenz der Kinder.

Das Wunderbare ist, dass die von der FAU entwickelte und pilotierte Systematik des Spielbetriebes unter Einbeziehung von Funiño insbesondere ein Instrument ist, um strukturelle Ungleichbehandlung zu beseitigen. Dies liegt daran, dass das System keine Ersatzbank kennt und durch weitere Organisationsmerkmale jedem Kind eine hohe Anzahl an Ballkontakten, Torschüssen, Angriffen und Abwehrhandlungen ermöglicht. Es ist leider immer noch so, dass die soziale Herkunft den späteren Erfolg stark beeinflusst. Starke Anfangsleistung wird immer begünstigt und die ungleiche Förderung setzt sich weiter fort. Dem wird mit unserem Spielbetriebsmodell – zumindest im Fußball – entgegengewirkt. Wir schreiben uns zwar alle Diversität auf die Fahnen, doch wir müssen auch Taten folgen lassen. Es muss sich strukturell etwas ändern und ich habe oft gehört, dass ich meine Zeit verschwenden würde, da der DFB und das Verbandswesen im Allgemeinen reformunfähig seien.

Es hat zwar lange gedauert, aber letztlich hat es doch geklappt, Reformen anzustoßen, die seit 40 Jahren überfällig sind.

Neben einer verbesserten Entwicklung des individuellen Leistungspotentials ergeben sich weitere Vorteile. Die Sozialkompetenz der Trainer*innen wird gesteigert, die Kinder bewegen sich mehr – das ist alles viel bedeutsamer als die Leistungszugewinne selbst. Der Systemansatz ermöglicht es, dass rund 400 Profifußballer, aber eben auch zwei Millionen Kinder, die später keine Profifußballer werden von den Veränderungen profitieren. So wird auch die Bindung an den Sport intensiver und somit auch die Wahrscheinlichkeit für lebenslanges Sporttreiben im Sinne einer bewegungsbezogenen Gesundheitsförderung erhöht.

Bauen Sie diese Ansätze auch in Ihre Trainerausbildung ein?

Der Spielintelligenzansatz hat auch Einzug in die Trainingsausbildung gehalten und da muss man nun dranbleiben. Wir haben seit über 40 oder sogar 50 Jahren die klassische Einteilung der sportmotorischen Leistungsfähigkeit in Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit, Koordination, Technik und Taktik.

In diese Kategorien sind auch die Mitarbeitenden in Trainerstäben häufig eingeteilt. Inzwischen besteht jedoch oft das Problem, dass die Cheftrainer eine andere Sprache sprechen, als die akademisch ausgebildeten Spezialtrainer. Weiterhin werden Athletinnen und Athleten durch diese Entwicklung auch häufiger von Mitarbeitenden trainiert, die das Wesen des Fußballsports nicht mehr verstehen. Darum rücken nun andere Ansätze in den Vordergrund, die zum Beispiel aus der Psychologie kommen und eher die Sporthandlungen in den Vordergrund rücken, als trainingswissenschaftliche Strukturmodelle. Ein solcher Ansatz ist das Spielintelligenzmodell mit seinen vier Phasen: Wahrnehmen, verstehen, entscheiden, ausführen.

Das sind vier Phasen, die wir alle jeden Tag tausendfach in Zyklen durchlaufen. In der Forschung und Entwicklung geht es nun darum, Trainings- und Wettkampfkonzepte zu entwickeln, die diesen Phasen gerecht werden. Ich bin daher derzeit mit der Ausarbeitung der Kompetenzmodule zu diesem Ansatz beschäftigt und erprobe verschiedene Aspekte in der Sportlehrer- und Trainerausbildung hierzu. Neben den Verbänden in Deutschland gibt es Partner in USA, Mexiko, Kolumbien, China, Japan, Ungarn, Österreich und der Schweiz, die von mir geschult wurden und mit denen ich hinsichtlich der Weiterentwicklung im Austausch stehe.

Es gibt inzwischen 850 Übungen, die den Spielintelligenzansatz in den Mittelpunkt rücken. Dem DFB habe ich bereits Vorschläge gemacht, wie man den Spielbetrieb in Deutschland umstrukturieren kann. Diese Vorschläge sind auch in das Zukunftsprogramm ‚Futur‘ aufgenommen worden.

In Hansi Flick habe ich einen großen Befürworter, der viele dieser Dinge bereits in seiner Arbeit sehr erfolgreich umsetzt. Ich bin daher sehr froh, dass er als neuer Nationaltrainer nun wieder größeren Einfluss auf die Fußballentwicklung in Deutschland erhält.

Worauf freuen Sie sich bei der EM?

Ich freue mich darauf, mit meinem Sohn die Spiele zu schauen und fachsimpeln zu können. Durch ihn habe ich gesehen, wo es Nachholbedarf gibt. Ich werde mit der ‚Fach- und Fanbrille‘ die Spieler und Trainer der anderen Nationen beobachten, denn gerade in Frankreich, England und Spanien wird die Sportwissenschaft stark in den Fußball einbezogen. Eine Tendenz ist beispielweise, dass Trainer stärker ‚Former‘ und weniger ‚Drill Instructor‘ sind. Sie erteilen nicht nur Befehle, die auszuführen sind wie in einer Armee, sondern sie führen die Spieler zu Lösungen und entwickeln diese weiter. Deutschland hat insbesondere in der Bundesliga und im Breitensportsektor noch viel Entwicklungspotential, wenn es darum geht, wissenschaftliche Methoden zur Optimierung des Fußballs zu nutzen