Was heißt denn hier aufgeklärt? – Ein Gastbeitrag zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant

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Immanuel Kant (Gemälde von Johann Gottlieb Becker, Public domain, via Wikimedia Commons)

Ein Gastbeitrag von Marco Schendel

Am 22. April 2024 wäre der Aufklärungsphilosoph Immanuel Kant 300 Jahre alt geworden. Ein besonderes Anliegen war ihm zeitlebens der Kampf gegen religiösen Dogmatismus und Bevormundung. Wie würde der große Philosoph auf unsere heutige religiöse Landschaft in Deutschland blicken?

Glauben Sie an Gott, an ein Leben nach dem Tod, an Karma? Hat Sie Ihr Mann schon einmal beim Beten erwischt? Oder ist Ihnen das mit der Religion eigentlich alles schnuppe? Und ist Ihnen das schnuppe, weil Sie denken, die Aufklärung und die moderne Wissenschaft hat die Religion überflüssig gemacht? Eine jungfräuliche Geburt kann es wissenschaftlich gesehen gar nicht geben. Das mit den Babys funktioniert, nun ja, ohne den Heiligen Geist. Im Übrigen sind auch Störche selten beteiligt.

Die religiöse Landschaft in Deutschland hat sich stark verändert. Wir sind pluraler, aber vor allem konfessionsloser geworden. Die Mitglieder der Evangelischen Landeskirchen und der Römisch-Katholischen Kirche kamen 1972 zusammen auf 90 % des Bevölkerungsanteils (Westdeutschland) und nach der Wiedervereinigung auf 73 %. Heute machen sie 48 % aus. Hinzu kommen 4 % andere christliche Konfessionen (vor allem Freikirchen und Orthodoxe), 5 % nicht-christliche Religionen (vor allem Islam) und 43 % Konfessionslose.

Immer wieder wird gesagt: Religion leben die Menschen auch außerhalb von Religionsgemeinschaften. Religiosität wird nicht weniger, sie verlagert sich nur, weg von den Institutionen, hin zu einer privaten Praxis. Statistisch lässt sich das nicht bestätigen. Zwar kann man von einer Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft nicht auf Art und Ausmaß der Religiosität der Person schließen. So finden sich religiös Distanzierte und Säkulare auch unter Kirchenmitgliedern und in muslimischen Gemeinden. Was man aber sagen kann: Außerhalb von Religionsgemeinschaften ist individuelle Religiosität selten. Wer aus der Gemeinde austritt, fängt nicht auf einmal zu Hause an, religiös zu sein. Die Konfessionslosen sind daher auch keine verkappten Religiösen, die nur zur institutionalisierten Religion Abstand nehmen. Die meisten stehen der Religion tatsächlich indifferent bis ablehnend gegenüber. Es gibt heute, quer zur konfessionellen Zugehörigkeit, mehr säkulare als religiöse Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.

Aber was bedeutet das? Werden wir zunehmend aufgeklärter, weil wir säkularer werden? Ist der Verlust von Religiosität zugleich ein Siegeszug der Aufklärung? Oder wie stehen Aufklärung und Religion zueinander? Fragen wir einen ausgewiesenen Experten auf dem Feld der Aufklärung: Immanuel Kant, 300 Jahre alt, Professor für Logik und Metaphysik in Königsberg, heute Kaliningrad. Da er leider nicht mehr selber antworten kann, müssen wir uns mit ein paar Hinweisen begnügen, die wir aus seinen damaligen Stellungnahmen (hochgelobte Bücher mit vielen Schachtelsätzen) klauben.

Kant war religionskritisch, aber nicht religionsfeindlich. Ihm war nicht daran gelegen, Religion abzuschaffen. Vielmehr wollte er die Religion von den – in seinen Augen – unvernünftigen Elementen befreien: von theoretischen Gottesbeweisen, von religiösem Dogmatismus, von der Bevormundung durch Kleriker. Er war grundsätzlich skeptisch gegenüber den Religionsgemeinschaften, die auf Statuten und Ritualen beruhen. Denn unter all den Vorschriften, so meinte Kant, geht verschütt, auf was es in der Religion eigentlich ankommt, nämlich auf die Moral und auf die Hoffnung auf eine bessere Welt.

Nach Kant sind wir gewissermaßen bereits religiös, wenn wir uns zusammentun und gemeinsam Missstände, Egoismus und Starrsinn zu überwinden suchen. Mit unserem Engagement verbinden wir die Hoffnung, dass die Welt ein Stück weit besser wird, und dass das Böse nicht das letzte Wort über das Schicksal der Welt und der Menschheit hat. Selber haben wir es jedoch nicht in der Hand, ob sich die Hoffnung auch erfüllt. Erfüllen kann sie laut Kant allein Gott. Der Gottesgedanke bleibt für die Aufklärung aus moralischen Gründen zwingend. Auch seinem Vornamen macht Kant damit alle Ehre: Immanuel kommt aus dem Hebräischen und bedeutet ‚Gott sei mit uns‘.

Politikwissenschaftler Marco Schendel beschäftigt sich mit der Aufklärungsphilosophie (Foto: privat)

Gemeinsam für eine bessere Welt – klingt kitschig? Nun, wir können es auch versöhnlich nennen. Denn im moralischen Handeln treffen sich religiöse und säkulare Bürgerinnen und Bürger. Eine Atheistin kann das caritative Engagement der Kirchen aktiv unterstützen, in der Obdachlosenhilfe oder der Telefonseelsorge. Und ein Christ muss sich nicht in religiösen Organisationen betätigen, sondern kann das auch bei Amnesty International tun. Wichtig wäre Kant, so viel ist sicher, dass wir uns engagieren – und nicht nur TikTok-Videos schauen.

Mit viel Sympathie würde Kant auf die Annäherung von Katholiken und Protestanten blicken. Katholiken und Protestanten streiten heute nicht mehr laut über die Abendmahlslehre. Sie sind sich weitestgehend einig, dass religiöse Führungspositionen demokratisch gewählt, homosexuelle Paare gesegnet, und die Heirat von Priestern erlaubt werden soll. Das alles könnte man als Aufklärung innerhalb der Religion beschreiben. Wohlgemerkt geht diese von den Gläubigen aus, die Kirchen selbst tun sich mit manchen Reformen immer noch schwer. In anderer Hinsicht sind die Kirchen jedoch bereits Teil der Aufklärung: Sie erkennen die Demokratie, den Rechtsstaat und die zugehörigen Freiheiten, allen voran die Religionsfreiheit, an und verteidigen sie gegen ihre Kritiker. Das war für Kant noch unvorstellbar.

Kant träumte allerdings nicht nur davon, dass die Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten mit der Zeit weniger wichtig werden. Die Unterschiede sollen irgendwann ganz verschwinden, und zwar für alle. Keiner soll mehr Jude oder Muslima, Christin oder Hindu sein. Völlige Aufklärung heißt für Kant, dass wir uns nicht mehr in der religiösen Zugehörigkeit unterscheiden. Wir sind dann alle Anhänger einer moralischen Menschheitsreligion. Das wäre natürlich äußerst langweilig. Aber nach Kant hätte das den Vorteil, dass es keinen Streit mehr aus religiösen Gründen gibt.

Nun wandern dieser Tage viele in die Konfessionslosigkeit ab, lösen ihre religiöse Zugehörigkeit auf. Grundsätzlich wäre das für Kant zu begrüßen. Dennoch würde Kant auch die Konfessionslosen nicht so einfach vom Haken lassen. Denn was ein Freiheitsdenker wie Kant zum Beispiel nicht abkann, ist die Haltung, alles sei determiniert und die Freiheit nur eine Illusion. Wenn sich die Konfessionslosen so verbohren sollten, dass sie alles, was die Erfahrung übersteigt – die Ideen von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott –, ablehnen, dann hätte das wiederum wenig mit Aufklärung zu tun.

Wir sehen, das mit der Aufklärung und der Religion ist gar nicht so leicht, wenn wir Kant zurate ziehen. Eine zunehmend säkulare Gesellschaft wird nicht automatisch immer aufgeklärter.

Zum Schluss sei noch ein leiser Zweifel gestattet. Kants Blick geht bei der Religion fast ausschließlich auf ihre moralische Seite. Wenn man allerdings Leute fragt, warum sie beispielsweise in den Gottesdienst gehen, haben die Antworten wenig mit der Moral zu tun: ‚Ich finde die Atmosphäre ansprechend‘, ‚Ich will eine gute Predigt hören‘ oder ‚Ich mag die Gemeinschaft dort‘. Das kann man alles auch moralisch erbaulich finden. Aber es gibt offenbar noch andere Zwecke, außer der Moral, die Menschen mit der religiösen Praxis verbinden. Es sind auch nicht nur religiöse Zwecke. Nur ein Viertel der Gottesdiensteilnehmer geht in den Gottesdienst, um ‚etwas vom Heiligen zu erleben‘. Na, werden Sie sagen, dann können sich ja auch die Konfessionslosen in den Gottesdienst trauen. Völlig richtig. Um seine Aufgeklärtheit muss dabei zumindest niemand fürchten. Allerdings bedarf es eines wichtigen Warnhinweises: Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Heilige doch um die Ecke spitzt – im Orgelspiel, in einer tröstlichen Fürbitte, oder im Antlitz der Person neben Ihnen.