Studierende des Poetik-Kollegs interviewen Autorin Katharina Mevissen
Im Rahmen des alljährigen Poetik-Seminars haben Studierende der Germanistik sich in diesem Jahr mit der deutschen Autorin Katharina Mevissen und ihren literarischen Werken auseinandergesetzt. Höhepunkt der Lehrveranstaltung bildete die Lesung von Katharina Mevissen in der Stadtbibliothek Erlangen zum Abschluss des Semesters.
Das Besondere am Poetik-Kolleg ist, dass die Gast-Schriftstellerinnen und Schriftsteller keine Vorlesungen halten, sondern Texte vorschlagen und diese gemeinsam mit den Studierenden diskutieren. Dabei stammen nicht alle Texte aus dem Werk des Gastes: Auch literarische und wissenschaftliche Texte anderer Autorinnen und Autoren werden gemeinsam besprochen.
Zur Aufgabe der Studierenden gehört außerdem ein Interview, das in diesem Jahr Natalie Diga, Valeriya Petrova, Franciska Schulze und Sophia Altmayer mit der Schriftstellerin Katharina Mevissen geführt haben.
Ihre Bücher fühlen sich schön an, weisen eine bestimmte Form, durchdachten Farbeinsatz und interessantes Design auf. Legen Sie auch während Ihres Schreibprozesses Wert auf Materialität? Arbeiten Sie mit Notizzetteln und analog oder digital?
Es ist alles auf einmal, ehrlich gesagt. Grundsätzlich bin ich ein sehr analog arbeitender Mensch. Ich mag Material und würde sagen, dass das Material immer darauf Einfluss hat, wie man arbeitet und welche Gedanken einem kommen. Das Analoge hat ja oft den Ruf, dass es sperrig ist – auch das macht etwas. Wenn ich mit einem Notizblock im Park sitze und nicht kurz im Internet etwas nachschauen kann, verändert das einen Gedankengang, weil er an dieser Stelle anders weitergeht. Zugleich bin ich natürlich die Generation, die nicht mehr auf der Schreibmaschine schreibt. Ich frage mich manchmal mit einem leichten Exotismus, wie die früher auf der Schreibmaschine arbeiten konnten – die Textbearbeitung ist da eine völlig andere. Was das Schreiben von Fließtexten, Romantexten oder Hörstücken angeht, bin ich deshalb eine total digital arbeitende Autorin. Ich bin das digitale Word-Doc gewöhnt. Nur weil ich auf einem digitalen Programm schreibe, bin ich aber nicht auf den Rechner beschränkt: Mein Tisch liegt voller Gegenständen, ich hänge viele Zettel an die Wand, arbeite mit Bildmaterialen und höre Dinge an. Was ich produziere, ist auch physisch im Raum. Mein Schreibprozess ist ein Mix aus Medien und Material, die zum Einsatz kommen und die man gar nicht so einfach trennen kann.
In Ihrem Buch ‚Mutters Stimmbruch‘ schreiben Sie über eine Frau, die ganz neu beginnt, als ihr Leben schon fast vorbei zu sein scheint. Es geht um inneren Aufbruch und Neuanfang trotz des Älterwerdens. Was macht Ihrer Meinung nach der Prozess des Älterwerdens mit einem Menschen im Hinblick auf die Zukunft? Was verbaut oder öffnet das Wissen um eine Zukunft für die Person?
Das Älterwerden oder das Altwerden, das der Figur ‚Mutter‘ in dem Text widerfährt, habe ich sehr stark als eine Verwandlungsgeschichte angelegt. Das ist ein Stück weit ungewöhnlich, weil das Verhältnis von Älterwerden und Zukunft oft anhand von Sterben, Vergänglichkeit und Sterblichkeit erzählt wird. Das Alter wird aus einer Perspektive von Verfall, von ‚Weniger werden‘ oder Ablauf der Zeit repräsentiert – und das ist sicher auch wahr, aber eben auch.
Deswegen war mir wichtig zu erzählen, dass es sich um eine Figur handelt, die nicht einfach verfällt oder vergeht, sondern die sich in erster Linie verwandelt in eine neue Lebenssituation und in eine neue körperliche Verfassung, die zwar Aspekte von Verfall aufweist, aber eben auch von Neuerung und Veränderung. Die neue Stimme Mutters ist da ganz zentral. Deswegen bedeutet die Frage nach der Zukunft in meinem Buch ein Erzählen von Lebendigkeit einer alten Figur.
Was genau hat Sie dazu veranlasst, über eine Mutterfigur, über die Protagonistin ‚Mutter‘, zu schreiben?
Das ist immer die große Frage nach den Figuren. Da gibt es viele Antworten drauf. Ich
finde, die langweiligste ist, wenn Autorinnen und Autoren erzählen: Dann war die Figur irgendwie plötzlich da und dann hat die in mir gearbeitet und ich habe so eine Stimme gehört, wie die Figur spricht – und dem bin ich dann nachgegangen (lacht). Und trotzdem sagen wir Schriftstellerinnen und Schriftsteller das ständig, weil ein Teil davon wahr ist, glaube ich.
Was das Publikum oft interessiert, ist die Frage vom Verhältnis der Figur Mutter zu meiner Mutter oder zu meinen Erfahrungen von alten Frauenfiguren. Diese Frage enttäusche ich immer sehr gerne und antworte darauf, dass Mutter eher eine kollektive Figur ist, die aus vielen Persönlichkeiten, Erfahrungen und auch strukturellen Erfahrungen von Mutterschaft oder Rollen alternder Frauen gespeist ist. Es ist mir wichtig zu sagen, dass Figuren sich im Schreibprozess zusammensetzen und man sie nicht verwechseln kann mit Personen, wie wir sie als Menschen unserer nicht-fiktionalen Welt kennen. Figuren bestehen stark aus Sprache und aus Entscheidungen, eine bestimmte Sprache zu wählen. Es geht um Phänomene, die sich an der Figur erzählen lassen, wie der Stimmbruch oder diese surreale Logik des Zahnausfalls. So kann man eben auch zu einer Figur kommen: Es gibt bestimmte Dinge, die passieren oder einer Figur widerfahren – und über diese Prozesse finde ich die Figur.
Stimme und Sprache haben einen hohen Stellenwert in Ihrem Buch. Die Protagonistin hat verschiedene Sprachen, wie die Erwachsenenstimme, die Haussprache, die Körpersprache oder die Milchstimme. Man könnte sagen, dass in jeder Sprache eine Art und Weise zu denken und zu handeln liegt. Wie kann man die Sprachen Mutters einzeln definieren oder darf man das überhaupt?
Alle Leserinnen und Leser dürfen das. Ich finde, Autorinnen und Autoren sollten so etwas nicht machen. Sie sollten nicht das, was sie in ihren Texten an Mehrdeutigkeit erschaffen haben, ‚lektüreschlüsselmäßig‘ durch Definition festlegen. Das würde mir fernliegen und ich denke, es ist für den Text und die Leseerfahrung schade. Aber ich kann sagen, was mich zu den Sprachen bewegt hat: Mir war wichtig, dass eine Figur, die sehr stark als verschwiegene Figur eingeführt wird, als Figur die einen Stimmverlust durchmacht, nicht als sprachlos dargestellt wird. Ich wollte einen ganz starken Kontrast schaffen zwischen: Mutter zieht sich zurück, ihre Stimme verabschiedet sich, es krächzt und das ist keine Figur, die die Sprache verloren hat. Mutter hat nicht die Sprache verloren, sondern die Stimme, was im metaphorischen Sprachgebrauch sehr oft vermischt wird. Mutter hat eine große Sprachmacht, einen gewaltigen Sprach- und Wortschatz im Rücken. Sie hat neun Sprachen durch ihr Leben erworben, die sie prägen und die in ihr sind – aber sie benutzt sie nicht. Und das ist ihre Entscheidung: Über ihre Stimme kann sie in manchen Momenten zwar nicht verfügen, aber über ihre Sprachen schon und sie entscheidet sich, an der Stelle, an der sie in ihrem Verwandlungsprozess steht, erstmal zu schweigen trotz ihres Sprachreichtums.
Mutter macht im Verlauf des Buches eine große Entwicklung durch und erlangt am Ende ihre neue Stimme. Sie haben das vorhin als ‚Verwandlungsgeschichte‘ aufgefasst. Warum wird Mutter kein eigener Name gegeben? Warum wird sie trotz ihrer persönlichen Entwicklung weiterhin ‚Mutter‘ genannt?
Mir ist aufgefallen, dass der Name ‚Mutter‘ Reibung erzeugt und einen Unmut auslöst. Leserinnen und Leser fragen sich, warum sie den denn nicht loswerden kann. Ich glaube, es ist eine Wahrheit dieser Geschichte, dass Mutter den Namen ‚Mutter‘ nicht loswerden kann, obwohl sie sich in all ihrem Tun und ihrer Entwicklungstechnik weit von Mutterschaft entfernt hat. Es ist ein Stück weit ihr Eigenname geworden.
Mir geht es mittlerweile so, dass ich ‚Mutter‘ gar nicht mehr mit Mutterschaft verbinde, wenn ich diesen Text lese oder vorlese – weil ich mich so an den Begriff als Eigennamen gewöhnt habe. Dennoch kann man sich die [von euch genannte] Frage stellen. Es heißt ja auch am Anfang des Buches „Mutter hatte viele Namen und keiner davon lautete Mutter“. Das deutet schon an, dass da eine Verarmung passiert ist. Mit Namen ist es ja eigentlich wie mit Sprachen – wir haben wahrscheinlich alle mehrere oder sogar viele. Ich denke, mir wäre es für meine Verhältnisse metaphorisch ein bisschen too much gewesen zu sagen: Sie bekommt die neue Stimme und dann auch noch einen neuen Namen. Das war mir irgendwie zu rund. Sie kann nicht alles abstreifen, was sie geworden ist.
Haben Sie sich während des Entstehungsprozesses Gedanken gemacht, ob man das Buch auch analog mit einer Vaterfigur gestalten hätte können?
Nein, ich habe nicht darüber nachgedacht und ich denke auch nicht, dass es möglich gewesen wäre. Was sehr möglich ist und was der Text ja auch tut, ist, immer wieder aufscheinen zu lassen, dass die biologische Kategorie von Mutter, von Geschlecht oder von Weiblichkeit eigentlich als Fiktion erscheinen soll. Das heißt, in Mutters Mutterschaft, die keine Mutterschaft ist sozusagen, soll auch die Möglichkeit der Vaterschaft, der Vaterrolle oder männlicher Rollen aufscheinen. Mutter nimmt diese Möglichkeiten immer wieder wahr, sie wirken nur anders, weil die Art, wie ihr Körper gelesen wird, nicht zu ihrem Verhalten passt und nicht zu den Rollenerwartungen. Eine männliche Rolle oder Vaterrolle ist also auch Teil des Buches, aber es hätte ein anderes Setting erfordert, den Vater als Figur zu erzählen. Die ganze Ambivalenz des Stimmbruchs wäre dann weggeknickt. Mutter musste Mutter sein, sonst hätte die Geschichte kein subversives Potenzial entfaltet.
Wie verstehen Sie Ihre Schriftstellerinnenrolle? Verbinden Sie ein bestimmtes Selbstverständnis mit Ihrer Rolle als Autorin? In Ihrem Roman ‚Ich kann dich hören‘ wird beispielsweise kritisiert, dass es für Gehörlose keine Universität gibt. Ist es Ihnen ein Anliegen, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen?
Das ist was, was jeden Tag auf dem Schreibtisch liegt und für mich persönlich immer eine Abwägungsfrage: Gehört derartige Kritik in diesen Text oder in einen anderen oder in welches Projekt? In Genres wie Essay, Sachbuch oder Forschungsarbeit ist es gängig zu sagen: Das ist jetzt mein Ziel, mein Anspruch und meine Kritik und das steht am Anfang. So funktioniert aber literarisches oder lyrisches Schreiben für mich nicht. Dennoch sind meine Texte durchdrungen von einer Perspektive auf Welt und Gesellschaft und von dem Wunsch, etwas abzubilden, was in einer mehrstimmigen und vielfältigen Gesellschaft da ist, aber nicht unbedingt repräsentiert wird in der Literatur. Das alles soll in meine Texte einfließen. Dennoch gibt es eine Autonomie des literarischen Texts, in den diese Dinge nicht 1:1 übersetzt werden. Das Aktivistische kann absolut im Text stattfinden, aber die Wege hier sind, glaube ich, verwinkelter und subtiler als in der gebärdensprachlichen Literaturinitiative oder in Bündnissen wie Verlage Gegen Rechts. Die Frage ist immer: An welcher Stelle kann ich wie eine Aussage treffen?
Ergebnis oder Prozess?
Prozess
Telefonzelle oder Fax?
Telefonzelle
Poetryslam oder Lesung?
Lesung
Danke für das schöne Interview, Katharina Mevissen!
Über die Autorin Katharina Mevissen und ihr Buch ‚Mutters Stimmbruch‘
Katharina Mevissen wurde 1991 geboren und hat bereits mit ihrem Debütroman ‚Ich kann dich hören‘ große Aufmerksamkeit erregt: Das Werk gewann den Kranichsteiner Literaturförderpreis und wurde 2021 vom Westdeutschen Rundfunk als Hörspiel adaptiert.
Die studierte Kultur- und Literaturwissenschaftlerin lebt und arbeitet als Autorin in Berlin, wo sie aktuell zu Mündlichkeit und Literatur an der Freien Universität Berlin forscht. Ihre Werke zeichnen sich durch eine feine Beobachtungsgabe und ein tiefes Verständnis für die menschliche Psyche aus. ‚Mutters Stimmbruch‘ ist ihr zweiter Roman und zeigt ihre Entwicklung als Autorin, die es versteht, gesellschaftlich relevante Themen in literarisch anspruchsvolle Texte zu verwandeln.
Mit ‚Mutters Stimmbruch‘ hat sie sich fest in der deutschen Literaturszene etabliert. In ihrem Roman setzt sich Katharina Mevissen einfühlsam mit den Themen Schweigen, Trauma und familiäre Beziehungen auseinander. Die Autorin zeigt erneut ihre Fähigkeit, komplexe und emotionale Zustände literarisch zu erkunden und ihre Leserinnen und Leser tief zu berühren.
Der Roman erzählt die Geschichte von einer Mutter, die nicht näher definiert wird. Der Leser erfährt lediglich zu Beginn, dass sie viele Sprachen spricht, dazu gehört die Haussprache, Kindersprache, Gartensprache und Muttersprache, wobei deutlich wird, dass es sich hierbei nicht um konventionelle Sprachen handelt. Es sind Sprachen, die sie aufgrund ihrer veränderten Lebensumstände bereits verlernt hat. Mutter ist nicht die klassische Frau, die man sich vorstellt, wie sie allein und von allen Kindern verlassen in einem für sie viel zu großen Haus wohnt, denn das wäre eine traurige Version der Mutter. Vielmehr ist Mutter eine Person, die weiß, wie man den Herausforderungen des Lebens begegnet. Obwohl der Roman vom Altern handelt, versteckt er zahlreiche Motive der Jugendlichkeit, denn Mutter erfindet sich neu, sie lässt sich die Zähne rausreisen und ein Gebiss einsetzten, wodurch Mutter einen Neuanfang ihres Älterwerdens wagt. Mevissen versteht es, die inneren Konflikte ihrer Protagonisten darzustellen. Der Roman besticht durch eine klare und poetische Sprache. Mevissen nutzt eine Vielzahl von stilistischen Mitteln, um die Stille und das Schweigen der Mutter fast greifbar zu machen. Der Text ist sehr rhythmisch und sinnlich gestaltet, sodass man ihn am liebsten laut lesen oder hören möchte.
Katharina Mevissen hat mit ‚Mutters Stimmbruch‘ einen kraftvollen und berührenden Roman geschaffen. Ihre Fähigkeit, menschliche Emotionen und Beziehungen literarisch zu erfassen, macht sie zu einer wichtigen Stimme der zeitgenössischen deutschen Literatur. Dieses Buch ist ein Muss für alle, die sich für die Feinheiten der menschlichen Kommunikation interessieren und die Macht des Schweigens verstehen wollen.
Franziska Sykora