Was macht die chinesische Mathematik besonders? Ein Interview mit Humboldt-Professorin Andrea Bréard

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Prof. Dr. Dr. Andrea Bréard (Foto: Gudrun-Holde Ortner)GUDRUN-HOLDE ORTNER

Die Geschichte der Mathematik – und dann auch noch in China… klingt speziell und das ist es auch. Prof. Dr. Dr. Andrea Bréard widmet sich diesem Forschungsgebiet, das in Deutschland bislang einzigartig ist. Als Mathematikerin, Sinologin und Wissenschaftshistorikerin vereint sie ihre Expertise in unterschiedlichen Disziplinen, um Aufschluss über die Geistesgeschichte Chinas zu geben.

Für ihre Forschung erhält Prof. Bréard international viel Beachtung und so wurde sie für die Alexander von Humboldt-Professur ausgewählt, dem höchstdotierten internationalen Forschungspreis Deutschlands. Von der Université Paris-Saclay in Paris wechselte sie zum 1. Februar an die FAU, um die Alexander von Humboldt-Professur anzutreten und neue Direktorin des Internationalen Kollegs für Geisteswissenschaftliche Forschung „Schicksal, Freiheit und Prognose. Bewältigungsstrategien in Ostasien und Europa“ zu werden.

Die Fakultät heißt Prof. Bréard herzlich willkommen! Im Interview gibt sie kurze Einblicke in ihre Forschung und verrät, was an der chinesischen Mathematik ‚eigenartig‘ ist, mit wem sie an der FAU zusammenarbeiten möchte und worin die – überraschend einfache – größte Herausforderung ihrer Forschung besteht.

Die Stationen von Prof. Bréards Vita im Detail und mehr zu ihrer Forschung gibt es hier:

https://www.sinologie.phil.fau.de/mitarbeiter/professuren/prof-dr-dr-andrea-breard

 

Was hat als Mathematikerin Ihr Interesse an China geweckt?

Das kann ich gar nicht mehr richtig rekonstruieren – es hat sich nach und nach ergeben, würde ich sagen. Schon in der Schule war ich sehr gut in Mathematik, habe mich aber auch für Sprachen begeistert. Ich war eine richtige Streberin (lacht). Als es bei der Abiturfeier um Zukunftspläne ging, habe ich tatsächlich gesagt, dass ich Mathematik und Chinesisch studieren möchte – eigentlich nur als Scherz, um mein Image als Streberin zu bekräftigen. Dass es tatsächlich so kommt, hatte ich zu dem Zeitpunkt nicht gedacht. Ich habe wirklich kurz darauf angefangen Mathematik zu studieren, mit Informatik als Nebenfach. In meiner Freizeit habe ich mich mit japanischer Kalligraphie beschäftigt und auch angefangen, Japanisch zu lernen, habe aber festgestellt, dass mich China mehr interessiert, also habe ich mich doch auch noch für Sinologie eingeschrieben. Dass es so etwas wie chinesische Mathematik oder gar die Geschichte der chinesischen Mathematik gibt, wusste ich damals noch nicht – und ich glaube, das wissen auch heute noch die wenigsten Leute. Mein Plan war, Mathematikerin zu werden und Sprachen waren einfach meine Leidenschaft. Wie gesagt, die Kombination hat sich dann auch ein wenig zufällig ergeben.

 

Was macht die Geschichte der Mathematik in China so besonders?

Es gab lange Zeit keine Kontakte zwischen China und der westlichen Mathematik. Im 13. Jahrhundert gab es vereinzelt muslimische Astronomen am Kaiserhof, die gewisse mathematische Techniken in der Astronomie verwendet haben. Und um 1600 gab es die ersten Jesuiten aus Europa, die nach China kamen und die westliche Mathematik mitgebracht haben. Aber eigentlich kann man sagen, dass sich die chinesische Mathematik völlig unabhängig entwickelt hat und das macht sie relativ ‚eigenartig‘.

Das Spezielle an der chinesischen Mathematik ist, dass es eine rein algorithmische Mathematik ist – das bedeutet, es werden schrittweise Operationen beschrieben, um bestimmte Probleme prozedural zu lösen.

Die griechische Geometrie der Antike konzentriert sich hingegen, vereinfacht gesagt, auf Logik und Beweise. Das gibt es in der chinesischen Mathematik nicht. Die Algorithmen sind korrekt, aber Mathematik in algorithmischer Form zu betreiben, folgt eben nicht dem westlichen Modell.

Die chinesische Mathematik hat zum Beispiel auch die ‚Eigenart‘, in ‚natürlicher Sprache‘ Mathematik zu schreiben, das bedeutet mit Worten statt mit Formeln. Das sieht man bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts.

 

Können Sie kurz beschreiben, woran Sie gerade forschen?

Ein Thema, mit dem ich mich schon länger beschäftige, ist die Rolle der Statistik in China. Da gehe ich der Frage nach, wie natürliche und soziale Phänomene quantifiziert wurden und wie das in einem politischen Kontext passiert ist – vor allem im 20. Jahrhundert. Die Statistik unter Mao wird immer wieder als Statistik mit sozialistischen Charakteristiken beschrieben. Das ist ein Thema, das in China immer noch umherschwirrt. Auch unter Xi Jinping hört man immer wieder, dass Statistiken anders aufgebaut werden und nicht unbedingt den internationalen Normen folgen, weil China da seinen eigenen Weg gehen will. Statistik ist also eng verstrickt mit der Politik.

Insbesondere forsche ich in diesem Rahmen über den chinesischen Anthropologen Woo Dingliang. In den 1930er Jahren hat er sich mit der Quantifizierung von Intelligenz beschäftigt, das war damals weltweit ein gefragtes Forschungsthema und es entstanden beispielsweise die ersten Intelligenztests.

Dingliang war auch im Londoner Labor des Statistikers Karl Pearson tätig und hat dort promoviert. In diesem biometrischen Labor hat Pearson, und schon zuvor Francis Galton, Schädel aus der ganzen Welt gesammelt, um sie zu vermessen. Ziel war es, statistisch zu untersuchen, wie man Menschen in verschiedene ‚Rassen‘ einteilen kann. Für Pearson war die Zusammenarbeit mit Woo Dingliang von großem Interesse, denn dieser hatte Zugang zu Schädeln, die in China bei Ausgrabungen gefunden wurden. Heutzutage sieht man die Arbeit des Labors sehr kritisch, aber zu der Zeit war Eugenik weit verbreitet.

Als Anthropologe hat Woo Dingliang daran gearbeitet, statistisch die chinesische Rasse zu definieren. Das war ein sehr politisch geladenes Thema, denn im Westen stellte man sich Asiaten klein, krank und schwächlich vor. Woo Dingliang hat jedoch gezeigt, dass die Gehirnvolumina der ausgegrabenen Schädel aus China mindestens genauso groß waren wie die anderer Schädel aus der Londoner Sammlung. Das interessiert mich gerade so an Woo Dingliang, dass er versucht hat, statistisch dem negativen Bild der ‚gelben Rasse‘ durch wissenschaftliche, quantitative Argumente entgegenzutreten.

 

Sowohl die Rolle der Statistik in China als auch das Projekt zu Woo Dingliang zeigen, wie interdisziplinär Ihre Forschung ist. Gibt es Ideen, an der FAU mit anderen Disziplinen zusammenzuarbeiten?

Für meine Arbeit an der FAU gibt es tatsächlich schon einige konkrete Ideen, zum Beispiel mit Prof. Dr. Stefan Evert, Lehrstuhlinhaber der Korpus- und Computerlinguistik, zusammenzuarbeiten. Gemeinsam werden wir eine Analyse von chinesischen Mathematiktexten vornehmen, wobei die vom Team der Computerlinguistik entwickelten Methoden erlauben, große Textcorpora zu untersuchen.

Bei den algorithmischen Texten in natürlicher Sprache ist mir aufgefallen, dass die Sprache etwas steif oder formelhaft ist. Das Vokabular ist reduziert und man erkennt intuitiv am Stil, dass es sich nicht um einen literarischen Text handelt. Mithilfe der Computerlinguistik können wir zum Beispiel eine Metrik entwickeln und die Formelhaftigkeit der Sprache messen. Wir können auch aufzeigen, inwiefern es gewisse Standards von Argumentationsstrukturen gibt, selbst wenn die Texte algorithmisch und in natürlicher Sprache geschrieben sind. Betrachtet man Corpora über eine längere Zeitspanne kann man auch beschreiben, inwiefern sich die Sprache der Mathematik historisch verändert hat. Das ist gerade für das 19. Jahrhundert interessant, weil der westliche Einfluss verstärkt spürbar wird.

 

Sie haben gerade ein Buch fertiggestellt, das eine Übersetzung von einem chinesischen Mathebuch aus dem 19. Jahrhundert ist. Warum brauchte es gerade diese Übersetzung?

Sowohl der Verfasser Li Shanlan als auch das Buch sind sehr spannend. Li Shanlan war ein Mathematiker im 19. Jahrhundert, der moderne, westliche Bücher ins Chinesische übersetzt hat. Wie wir wissen, bestehen diese Bücher aus vielen Formeln, die in der chinesischen Mathematik jedoch unüblich waren. Diese Formeln hat er nicht direkt übersetzt, sondern ‚sinifiziert‘, also der chinesischen Sprache angepasst. Viele mathematische Ausdrücke, die heute noch in China verwendet werden, gehen auf ihn zurück. Daneben hat er auch selbst Mathematikbücher geschrieben, ist dabei jedoch der chinesischen Tradition gefolgt. Eines davon ist ein Buch über Zahlentheorie aus dem Jahr 1867. Er schreibt also in natürlicher Sprache und nicht mit Formeln, obwohl er durch seine Übersetzertätigkeit mit symbolischer Algebra gut vertraut war.

Dieses Buch enthält sehr viele sogenannte ‚kombinatorische Identitäten‘, die teilweise extrem komplex sind, aber er belegt diese nicht mit einem induktiven Beweis. Die Leser wissen somit nicht, wie er auf diese Identitäten gekommen ist. Mathematisch kann man sie direkt in Formeln übersetzen, aber in Li Shanlans Werk entsprechen sie dem Schriftbild eines literarischen Textes. Zusätzlich zu sprachlichen Formulierungen nutzt Li auch Diagramme, in diese kann man so etwas wie einen unvollständigen Induktionsbeweis ‚hineinlesen‘.

Ich habe das Werk komplett ins Französische übersetzt, das schuldete ich noch der französischen akademischen Welt (lacht). Auf 200 Seiten Kommentar versuche ich, vor dem Hintergrund der chinesischen Tradition zu rekonstruieren, wie Li argumentiert und wie er heuristisch vorgegangen ist, um diese Formeln abzuleiten. Darin sieht man einen alternativen Weg zur Erkennung mathematischer Strukturen, so ähnlich wie in der Mustererkennung.

Wie unterscheidet sich die chinesische wissenschaftliche Kultur von der westlichen?

Generelle Aussagen zur wissenschaftlichen Kultur möchte ich nicht treffen, aber ich kann hier für die Mathematik sprechen. So wie ich die historische, chinesische Mathematik beschrieben habe, die aus Algorithmen besteht und sich auf Problemlösung konzentriert, so geht man auch heute noch in der Mathematikausbildung vor: Man bekommt ein Problem gestellt und muss eine Lösung finden – während in der westlichen Welt die Ausbildung eher darin besteht, mathematische Aussagen zu beweisen. Da sieht man, dass der problemlösende Ansatz aus der historischen Mathematik noch sehr präsent ist.

Aber ich möchte auch betonen, dass die heutigen chinesischen Mathematiker natürlich genauso gut mit Formeln arbeiten können wie die westlichen. Wenn Sie heute durch ein chinesisches Mathematikbuch blättern, dann sehen Sie die gleichen Formeln wie in einem westlichen Mathematikbuch. Ich hatte in Frankreich Kollegen, die chinesische Mathematikartikel gelesen haben, obwohl sie kein Chinesisch konnten, weil die Formeln allein schon zum Verständnis genügten.

Mathematik ist zu unserer gemeinsamen Sprache geworden. Das wäre früher nicht möglich gewesen und ist erst seit etwa 1930 der Fall. Zu dieser Zeit haben sich die Naturwissenschaften, die zuvor keine große Rolle gespielt haben, in China institutionalisiert.

 

Was ist die größte Herausforderung an Ihrer Forschung?

Am Anfang war die Sprache etwas herausfordernd. Eigentlich ist Chinesisch nicht schwer zu lernen, Texte lesen geht zum Beispiel schnell, aber beim Sprechen muss die Betonung stimmen. Als ich das erste Mal in China war und Tee bestellt habe, bekam ich jedes Mal eine Cola vorgesetzt. Das ging einen Monat so und war nicht nur frustrierend, weil ich die Teebestellung nicht hinbekommen habe, sondern auch, weil ich Cola nicht mal mag! (lacht)

Heute ist die Herausforderung eine ganz andere. Ich suche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die etwas von Mathematik verstehen und Chinesisch sprechen, aber die findet man nicht so leicht. Auf der Hand läge jetzt, chinesische Mathematiker einzustellen, aber zusätzlich müssen sie sich auch noch für geisteswissenschaftliche oder historische Fragestellungen interessieren. Die große Herausforderung ist also, gute Leute für dieses spezielle Forschungsfeld zu finden.

 

Sie waren zuvor Professorin in Paris – wie war der Umzug ins beschauliche Erlangen?

Ich mag Paris sehr gerne, aber es ist für mich in Ordnung, zukünftig nur noch als Tourist dorthin zu fahren. Paris ist eine tolle Stadt, aber zum Leben ist es laut, eng und sehr teuer.

Coronabedingt ist es leider nicht so einfach, in der neuen Heimat anzukommen. Meine persönlichen Sachen sind auf Zwischenstation in Heidelberg, weil ich derzeit in Erlangen noch keine Wohnung oder Haus gefunden habe. Zum Glück kenne ich Erlangen schon, da ich ein Jahr lang Gast am IKGF der FAU war und ich freue mich schon darauf, die Stadt, die Restaurants und das schöne Umland neu zu erkunden, sobald dies wieder möglich ist.

Vielen Dank für das Interview!